Rheinallee | 2
Emil schaltete die Kreissäge aus und drehte am Lautstärkeregler des Radios, damit Herr Reinhardt die Reportage über den Besuch der Queen besser mitverfolgen konnte. Sonst lief im Atelier WDR3, aber zum Staatsbesuch der Königin hatte Emil ausnahmsweise auf BFBS eingestellt und die sendeten zeitweilig auch in deutscher Sprache. Emil hatte lange genug in England gelebt und gearbeitet, so dass er auch ohne diese Sondersendungen der Reportage hätte folgen können, aber sein Mitarbeiter hatte es nicht so mit Fremdsprachen.
Also hörten sie sich gemeinsam zwischen den neuesten Beathits an wie die britische Monarchin von Oberbürgermeister Willi Becker im Rathaus begrüßt wurde und später im Schiff Richtung Duisburg wieder verschwand.
Währenddessen arbeiteten sie weiter an dem Modell des Schauspielhauses. Der Grundstein war zwar schon gelegt und das Haus würde wenn es dann mal fertig sein sollte auch genauso aussehen, wie im Modell, das jetzt in der Mitte zwischen den beiden großen Arbeitstischen aufgebockt war, aber der Pfau wollte ein paar Änderungen, weil das Modell während der Bauphase noch ausgestellt werden sollte und gerade die Innenansicht der beiden Bühnen ihn im Gegensatz zur äußeren geschwungen, organischen Form, noch nicht zufriedenstellte.
So war das oft mit den Modellen für Wettbewerbe. Die Architekten änderten gerne die Pläne von einem Tag auf den anderen geringfügig ab. Geringfügig für sie, für Emil war es jedesmal schwer an einem zu dreivierteln fertiggestellten Modell noch etwas zu ändern. War das Material, wie in diesem Fall Holz, war es möglich Teile mit verschiedensten Skalpellklingen zu entfernen, aber auch dazu gehörte eine ausgesprochen ruhige Hand. Bei Plexiglasteilen, die mit Aceton verklebt waren, gab es keine andere Möglichkeit, als von vorne anzufangen. Kurz vor einem Abgabetermin konnte es vorkommen, dass er die Nacht durch arbeitete oder das ganze Wochenende, hin und wieder übermüdet am Arbeitstisch einschlief und kaum ansprechbar war, wenn Herr Reinhardt am Morgen zur Arbeit erschien.
Herr Reinhardt verlor nie ein Wort über Emils desolaten Zustand, wenn Fristen näherrückten. Er hatte seine Arbeitszeiten mit Emil fest vereinbart und war nicht bereit wesentlich länger zu bleiben. Mehr zahlen konnte Emil sowieso nicht, weil er sich nicht darauf verstand mit den Architekturbüros in solchen Fällen nachzuverhandeln. Diese, von ihm selber als Unzulänglichkeit erkannte, Schwäche war ihm schon lange zuwider, aber er schaffte es einfach nicht sie zu überwinden.
Im Fall des Modells für den Architekten Pfau war eine Nachverhandlung nicht nötig, da der Auftrag schon längst erledigt und bezahlt war. Mit den gewünschten Änderungen war ein neuer Auftrag zustande gekommen und auch die Abgabe war neu angesetzt, Zeitdruck war also nicht gegeben. Das traf sich gut, denn Isa schaffte es nicht Leo mit der Straßenbahn zur Montessorischule am Freiligrathplatz zu bringen und dann rechtzeitig zur Besuchszeit im Dominikus-Krankenhaus einzutreffen.
Jasper lag nach wie vor dort. Wohl noch lange, denn der Bruch war kompliziert gewesen und der Chirurg hatte vorsorglich schon darauf hingewiesen, dass die Heilung ein langsamer Prozess sei. Was das exakt bedeutete, darauf wollte er sich nicht festlegen lassen, aber den vierten Geburtstag werde Jasper wohl noch im Krankenhaus feiern müssen.
Das linke Bein eingegipst, mit Schmerzmitteln gut versorgt, wartete er täglich auf Besuch. Die Zeiten dafür waren streng geregelt und die Nonnen achteten sehr genau darauf, dass Jasper genug Ruhe hatte. Nicht nur Jasper. Er war schließlich nicht alleine im Zimmer, das machte es etwas leichter, aber er fragte trotzdem jedesmal, wenn Isa kam, wann er denn nach Hause kommen dürfe. Die Bettnachbarn wechselten häufig, waren manchmal wegen einer Mandeloperation nur kurz auf Station und bekamen dann obendrein noch Eiscreme, um die er die Anderen beneidete. Die Zeit wurde Jasper lang. Außerdem vermisste er seinen Bruder und seinen Vater sehr. Die beiden kamen selten zu Besuch. Leo ging jetzt zur Schule und weil Isa zur Besuchszeit bei Jasper war, brachte Emil ihn mit dem Auto nach Stockum. Bis Leo es gelernt hatte den Weg zurück nach Oberkassel mit der Strassenbahn zu bewältigen, musste Emil ihn mittags auch wieder abholen.
Es erschien kaum sinnvoll, vorher im Atelier eine Arbeit zu beginnen. Zwischen dem morgendlichen Schulbeginn und Schulschluss gegen Mittag, blieb wenig Zeit. Das reichte höchstens für ein bisschen Büroarbeit und zum Telefonieren. Seit Jaspers Unfall waren Isa und er übereingekommen, dass sie die Stadt verlassen und etwas Ruhigeres außerhalb suchen wollten, möglichst mit eigenem Garten, damit die Kinder Platz zum Spielen hatten. Also sprach Emil immer, wenn es sich ergab, befreundete Architekten an, besuchte sie zu Hause oder fuhr zu Adressen, die sie ihm empfohlen hatten. Wenn er Isa und Leo mitnehmen konnte, fuhren sie zusammen raus.Bald schon schwärmten sie von der Gegend um Ilverich. Eines Tages waren sie über Lohausen nach Kaiserswerth gefahren, hatten die Fähre genommen und waren dann von Langst aus zu Fuß gegangen. Die schmalen Strassen, links kleine Wäldchen rechts Weizenfelder abgewechselt von Weiden, auf denen Pferde grasten. Auf dem Weg zurück zum Parkplatz nahm Emil seinen Sohn auf die Schultern. Leo war zwar nicht mehr drei wie Jasper, aber für ein kleines Stück Weg ging es schon. Von dort oben auf den Schultern seines Vaters hatte er eine gute Aussicht über die Hecken und kommentierte was er dabei sah: 'Ein Teich mit Enten! Eine umgedrehte Schubkarre! Eine rostige Axt! Ein kleiner Hund!' Da Isa und Emil nicht über die Hecken schauen konnten, schauten sie einander an und erfreuten sich an der Freude ihres Ältesten. Auf der Rückfahrt zu ihrer Wohnung in Oberkassel, fragte Leo, ob sie auch bald in solch einem schönen Haus mit Garten wohnen würden und ob er einen Hund bekäme. Zuerst schwiegen Isa und Emil gemeinsam für einen Moment, dann sprachen sie gleichzeitig: 'Ja.' 'Nein.' Dann lachten sie beide. Leo hatte sich zwischen die beiden Rücklehnen der Vordersitze geklemmt und schaute die beiden abwechselnd an. Isa erklärte, dass sie gerne in einem Haus mit Garten leben wollte, aber vielleicht nicht sofort. Erst müsste Jasper wieder gesund werden. Und Emil fügte hinzu, dass ein Haus mit Garten sehr teuer sei, und sie nicht reich wären. Bevor sie reich genug für ein Haus seien, müsste er noch viele Modelle für die Architekten bauen und auch dann wüsste er nicht ob sie sich ein Haus und einen Hund leisten könnten. Leo schwieg.
Später am Abend, als Emil ein Gute-Nacht-Lied vorsang, sagte Leo schläfrig, bevor ihm die Augen zu fielen: 'Aber vielleicht eine Katze... .' Emil deckte seinen Sohn behutsam zu und verlies leise das Kinderzimmer.
Emil hatte wieder gewartet bis Isa aus dem Krankenhaus zurück kam. Nachdem er Leo an der Schule rausgelassen hatte, war er noch einmal nach Ilverich gefahren. Als er an den Häusern vorbeikam, über deren Hecken Leo geschaut hatte, verlangsamte er das Tempo und versuchte sich vorzustellen, er wäre gerade unterwegs nach Hause. Es fühlte sich nicht richtig an. In diese Gegend gehörte er nicht, so sehr er es Isa und Leo auch gönnte. Er beschleunigte den Motor des Citroens und bog in Richtung Lank-Latum ab. Anders als beim letzten Mal, als sie zu dritt aus Düsseldorf herausgefahren waren, machte er sich nicht direkt auf den Weg zurück. Herr Reinhardt hatte ihm von einem Hof erzählt, der nicht bewirtschaftet wurde, auf dem schon eine Familie zur Miete wohnte. Herr Reinhardt lebte lange genug in Meerbusch um dort alles und jeden zu kennen. Der Name Kothes war vielen geläufig, hatte der junge Kothes doch erst vor wenigen Jahren seinen Vater beerbt. In der Nähe des Krefelder Golfclubs sollte dieser Hof gelegen sein. Emil wollte nur kurz vorbeifahren, die Gegend erkunden. Dann wollte er sich wieder an das Modell vom Schauspielhaus setzen.
Also ließ er Lank-Latum hinter sich, erreichte Gellep-Stratum, verließ die Düsseldorfer Strasse nach links, folgte dem Strassenverlauf bis er einen kleinen Bach überquerte. So war die Wegbeschreibung von Herrn Reinhardt gewesen. Er fuhr aussichthaltend weiter. Auf der einen Seite Weizenfelder auf der anderen ein paar schrumpelige Bäume. Die Rückwand einer alten Scheune, dann wieder Acker. Die Strasse endete in einem holperigen Wirtschaftsweg, der in einiger Entfernung zu einem Hof zu führen schien. Das musste wohl der Kotheshof sein, den sein Mitarbeiter ihm empfohlen hatte. Er bog noch einmal rechts ab, folgte der staubigen Spur, die ein Traktor hinterlassen hatte und fand die Weiterfahrt durch ein geschlossenes, blau lackiertes Tor beendet. Bevor er den Motor ausschaltete, zündete er sich eine Zigarette an und stieg dann aus. Er ging zu dem verschlossenen Tor und linste durch die Streben hindurch. Keine Menschenseele weit und breit, aber zwei Traktoren, einer mit Transportanhänger, Pflüge und Eggen, standen gesäubert und betriebsbereit auf dem Hof. Wie es aussah, wurde der Hof doch noch bewirtschaftet.
Emil setzte sich wieder ans Steuer, wendete den Wagen und fuhr den Weg, den er gekommen war weiter, in der Hoffnung, sich nicht völlig verfahren zu haben, aber er machte nur noch einen anderen Hof aus, auf dem es nicht anders aussah als auf dem ersten, dann endete auch der Wirtschaftsweg. Nach rechts zeigte ein Wegweiser zum Golfclub. Emil lenkte den Wagen nach links, bog noch ein, zwei mal ab und befand sich dann vor einem Ortschild von Krefeld. Er würde die Suche mit einer genaueren Adresse noch einmal wiederholen, aber erst in ein paar Tagen. Inzwischen war es an der Zeit zurück ins Atelier zu fahren und sich noch ein paar Stunden an das Modell zu setzen.
Isa sah erschöpft, aber glücklich aus als sie Emil nach dem Krankenbesuch bei der Arbeit aufsuchte. Glücklich darüber, dass Jasper außer seinem gebrochen Bein nichts zu fehlen schien, und erschöpft, weil es anstrengend war die beiden Kinder tagtäglich aufzumuntern und kaum Zeit für sich selber zu haben.
Wenn Emil aus dem Atelier nach Hause kam, war es meistens schon spät und sie hatte sich bereits hingelegt. Für ihn war es auch nicht einfach. Sie wusste ja von dem Druck unter dem er stand. So war es immer schon gewesen seit sie verheiratet waren. Langsam hatte sich Isa daran gewöhnt, dass aus dem lebenslustigen, Hallodri, wie seine Eltern ihn ihrer Mutter gegenüber bezeichnet hatten, ein ernsthafter, in sich gekehrter Mann geworden war. Die Zeit in Nympsfield bei John und Christine vermisste sie. Dort hatte sie sich auch um die Kinder kümmern müssen, aber es waren nicht ihre Kinder gewesen und es gab Abwechslung. Spaziergänge in den Cotswolds oder Abende am Lagerfeuer mit den anderen Gästen von der Easter Park Farm.
20.01.2023 - 20:33:40