Kotheshof | 6
Richtig schlimm wurde es, als die bunten Lichter an den Markisen der Lokale angeschaltet wurden. Bis dahin hatten sie an dem kleinen Strand von Cadaques mit Eimern und Schaufeln kleine Burgen gebaut, die sofort von den Wellen umspült wurden und langsam zusammensackten. Zwischendurch hatten sie ein Eis gegessen und versucht, mit der Taucherbrille, die Jasper gleich am ersten Tag erbettelt hatte, unter Wasser nach Fischen Ausschau zu halten. Sie waren aber nie weit genug ins tiefe Wasser gegangen und bekamen so nur Sand zu sehen. Schwimmen konnte nur Leo. Aber Schwimmen im Schwimmbad und Schwimmen im Meer waren zwei gänzlich unterschiedliche Angelegenheiten und weiter als bis dorthin wo ihm das Wasser bis zur Brust ging wollte Leo unter keinen Umständen gehen. Jasper blieb bereits stehen, wenn ihm das Wasser über die Knie plätscherte und beneidete seinen Bruder für dessen Mut. Nils hockte neben Doreen auf dem großen Handtuch nuckelte am Daumen und blickte in die Ferne. Oder zumindest sah es so aus. Vielleicht träumte er auch nur wieder vor sich hin und dachte an Isa, die so plötzlich verschwunden war.
Allmählich wäre es an der Zeit gewesen die Strandspielsachen einzupacken und zum Appartement zurückzukehren damit sie sich umziehen konnten und dann zurück zum Hafen zu gehen um in ein Restaurant zu gehen. Doreen schaute unentschlossen den Strand erst links hinunter dann nach rechts und sagte kein Wort. Sie sprach kein Wort Deutsch und das bischen Englisch, das Leo und Jasper auf der Easter Park Farm beim Spielen mit Doreens jüngeren Geschwistern aufgeschnappt hatten, beschränkte sich auf ein paar Abzählreime und die Zahlen bis dreizehn, wobei sie twelve immer ausließen. Doreen fühlte sich nicht erst seitdem Emil rausgeschwommen war, hilflos und verloren. Sie war mit dem Flugzeug in Düsseldorf angekommen und Emil hatte sie mit dem Wagen abgeholt.
Zuerst hatten Leo und Jasper ihrem Vater noch hinterhergesehen und sich gewundert, weil sie Emil noch nie hatten Schwimmen gesehen. Sie kannten ihn nur mit einer Zigarette zwischen den Lippen hinter dem Lenkrad oder beim Arbeiten im Atelier. An der Kreissäge oder gebeugt über einen der großen Pläne, die Emil aus braunen Pappröhren herauszog um sie dann mit Markiernadeln auf dem hölzernen Arbeitstisch zu fixieren. Gut, sie kannten ihn auch Abends, wenn er ihnen am Bett ein Gute-Nacht Lied vorsang oder ein Buch vorlas. Sie waren mit ihm hinter dem verwilderten Garten, wo Sie den Trichterfang für die Pappzielscheiben an den Baum genagelt hatten, zum Drachensteigenlassen gewesen. Emil hatte ihnen gezeigt wie sie mit der Schnur in der einen Hand, den Blick zurückgewandt, schnell über den Stoppelacker laufen mussten bis der Drachen hoch am Himmel stand. Bei den ersten Versuchen war der Drachen ins Trudeln geraten und die Papierbespannung hatte das eine oder andere Loch bekommen. Mit etwas Leim und ein paar Transparentpapierfetzen hatte Emil den Drachen schnell repariert und bald schon verstanden Leo und Jasper es ausgezeichnet den Arm zur rechten Zeit hochzureißen damit die Luft den Drachen in die Höhe heben konnte.
Emil so ruhig davonschwimmen zu sehen bis sie ihn kaum noch erkennen konnten erschien ihnen seltsam. Und als sie ihn, nachdem sie einen Moment nicht aufgepasst hatten, gar nicht mehr sahen, begann Jasper Angst zu bekommen. Was wenn er untergegangen war? Oder wenn ein Raubfisch ihm ein Bein abgebissen hatte! Von einem Moment auf den anderen wurde er sich seiner Verlassenheit so sehr bewußt, dass es ihm den Atem verschlug. Er wollte etwas zu seinem Bruder sagen, aber er konnte in seiner Hilflosigkeit keine Worte finden. Er sah zu Doreen hinüber und in ihrem ausdruckslosen Gesicht sah er sich selbst wieder. Sprachlos.
Jasper hätte sich gerne von Doreen trösten lassen. Aber die ganze Fahrt lang hatte sie kein einziges Wort zu den Kindern gesprochen. Als sie spät abends auf dem Kotheshof losfuhren, waren sie auf der Rückbank eingeschlafen und unterwegs nur kurz aufgewacht und wieder eingenickt. Jasper schaute aus dem Seitenfenster. Die nächtliche Straße war in orangefarbenes Licht gehüllt. Während er sich noch über die fremde, unwirklich erscheinende Beleuchtung wunderte, zwängte er sich zwischen die beiden Rückenlehnen der Vordersitze und fragte, wo sie seien. 'Belgien', sagte Emil kurz, dann war es wieder still im Auto und Jasper legte sich in den Fussraum vor der Rückbank um weiter zu schlafen. Als er das nächste mal aufwachte, war es schon hell. Leo hatte sein Fenster heruntergekurbelt und sein Gesicht in den Fahrtwind gehalten. Schnell ging es nicht voran.
27.03.2023 - 22:59:05