Hamburg | 2

Der Weg mit dem Auto zu Isa und Udo in ihrer neuen Wohnung war weit. Über fünf Stunden brauchten sie im vollgepackten Citroën schon bis Gifhorn. Dort waren sie bei Emils Vater zum Essen angemeldet. Jasper freute sich nicht auf den Besuch bei seinem Großvater. Das war nur wieder so eine Idee von seinem Vater. Lieber hätte er wie auf der Fahrt nach Cadaqués in einem Restaurant halt gemacht. Außerdem kannte er seinen Opa gar nicht.  
 
Ein einziges Mal waren sie dort gewesen und hatten Emils Stiefmutter kennengelernt, die mit den übermüdeten Kindern, die plötzlich im Wohnzimmer standen nichts anzufangen wusste. Der wirkliche Grund damals war die Trennwand die Emil für seinen Vater in dessen Haus maßgeschneidert eingebaut hatte. Die Wand war auf der einen Seite ein Bücherregal. Bis an die Decke reichten die Buchrücken. Über der letzten Reihe, ganz oben, waren Lampen angebracht, die das dunkle Holz und schweren, braunen Ledereinbände in ein sanftes Licht tauchten. Zwischen dem linken und dem rechten Regalteil war eine Zarge eingebaut. Ein paar Kleinigkeiten passte Emil noch ein (das war wohl der eigentliche Grund für den seltenen Besuch), dann bestaunten die Erwachsenen die fertige Arbeit und fanden lobende Worte, denen ihre Unaufrichtigkeit so deutlich anzuhören war, dass selbst die anwesenden Kinder peinlich berührt schwiegen. Es war gewiß eine Farce die an jenem Abend in Gifhorn aufgeführt wurde. Emil war bekanntermaßen das schwarze Schaf in der Familie. Als einziger seiner Geschwister hatte er es nach dem Krieg versäumt, den nötigen Enthusiasmus aufzubringen um beim Wiederaufbau des darniederliegenden Deutschlands die Chance zu einer eigenen Karriere wahrzunehmen. Jedenfalls war das die Sichtweise seines Rechtsanwaltsvaters und seiner jungen Frau, nachdem Emil die schon avisierte Meisterprüfung im Tischlerhandwerk und die gute Anstellung beim renommierten Möbelrestaurator Rehberg in Schlangenbad für eine dubiose Beschäftigung auf der Ruine Burg Waldeck aufgegeben hatte.  
Die Eskapaden seines Sohnes hatte Heinrich Fengler schon um den Verstand gebracht, als sie noch in Bautzen lebten und seine erste Frau noch nicht gestorben war. Emil fiel immer aus der Rolle.  
 
Als einziger seiner fünf Kinder schien Emil nach der Mutter zu kommen. Eine Mischung aus Melancholie und Übermut machte Emils Vater auch dafür verantwortlich, dass Emil nach dem erlösenden Tod von Therese unter Appetitlosigkeit litt und zusehends weniger zu werden schien, so dass er sich gezwungen sah ihn zu seiner Schwester in den Schwarzwald zu schicken. Die drei anderen Jungs machten sich ganz gut und für die kleine Lisbeth, gerade mal etwas mehr als ein Jahr alt, hatte er in der Tochter seines Anwaltskollegen Georg Burgener ein äußerst geschicktes Kindermädchen gefunden.  
 
Als sie sich nach seiner Rückkehr aus der tschechischen Kriegsgefangenschaft im Frühjahr 1946 auf dem Großväterlichen Gut Triangel wiedertrafen, hatte Heinrich schnell dafür gesorgt, dass sein nach wie vor verträumter Sohn etwas ernsthaftes unternahm und ihn mit dem Auftrag ein Dutzend Eier zum Tischlermeister Schweer zu bringen, ins nahegelegene Gifhorn geschickt. Der Weg dorthin, an Feldern und Wiesen entlang, über die Aller hinüber bis zur Cardenap-Mühle war nicht weit. Wenn er zügig ging brauchte Emil für die paar Kilometer nicht mal eine Stunde und er war dankbar für die Abwechslung. Es war zwar ein Riesenspass, mit den anderen Flüchtlingskindern auf dem Gelände des Gutshofs zu toben, aber in der letzten Zeit hatte sein Opa sie schon oft zur Arbeit auf dem Feld abkommandiert und das war manches Mal schon eine Plackerei.
27.09.2023 - 0:20:26