Fünf Briefe meines Vaters

 
 
Die Aufnahmeprüfungen für die neuangemeldeten Schüler waren für den 8. und 9. Januar angesetzt. In der Nacht zu Sonntag hatte heftiger Schneefall eingesetzt und ganz Meißen in winterliches Weiß gehüllt. Während sie sich, ihren Enkel im Schlepptau, den Weg über die Altstadtbrücke zu St. Afra bahnte, schoß Henriette zum wiederholten Male der Gedanke durch den Kopf, dass sie doch verrückt sein musste in ihrem Alter noch einmal Mutter zu spielen. Und das nur, weil ihre Älteste mit dem fünften Kind schwanger war und bei ihrer angeschlagenen Gesundheit wahrlich lieber keine Kinder mehr bekommen sollte, nachdem die vier Jungs ihr schon alle Lebenskraft geraubt hatten.  
Kurt schleppte den Koffer mit grimmiger Miene durch den eisigen Januarwind und sah ebenfalls nicht überaus erbaut aus. Er war nicht gefragt worden, ob er aus Bautzen von der Mutter und den Brüdern weg wollte. Seine Tante Enni hatte versucht es ihm zu erklären, aber er hatte ihr schon gar nicht mehr zugehört. Sein Vater war zur Luftwaffe abkommandiert worden und irgendwo in Belgien oder so stationiert und er als Ältester sollte nun Vernunft beweisen und zur Omi fahren um aufs Internat zu gehen.  
Der Vater hatte davon erzählt, dass er dort in der Fürstenschule sein Notabitur gemacht hatte, bevor er in den Krieg gezogen war, dass er Afraner war und sein Vater dort begraben war.  
 
Das gab ihm viel zum Nachdenken, aber auf dem Weg durch die Altstadt drehte sich in seinem Kopf alles um die Frage, wo er schlafen sollte und ob er die Aufnahmeprüfungen überhaupt bestehen könnte. Richtig Zeit zum Üben hatte es ja nicht gegeben; er hatte geglaubt noch Zeit zu haben bis er das Aufbaugymnasium abgeschlossen hatte, aber dann hatte es Krieg gegeben und plötzlich war alles anders.  
Auf einmal wurden schon Sextaner aufgenommen. Es gab gar keine Zeit mehr zum Überlegen und von seinem Bruder Emil hatte er sich auch gar nicht richtig verabschieden können.  
Es hieß zwar es wäre ja nicht für immer, aber ihm schwante gleich, dass er beim Übertreten des Schulportals gleichsam in eine andere Welt gelangen würde.  
 
Langsam näherten sie sich dem in hellem Stück gehaltenen Gebäude. In der Zufahrt standen einige Automobile, aus denen Koffer und Taschen gehoben wurden. Daneben standen Jungen wie er. Etwas verloren wirkten sie in ihren Anzügen neben Mutter oder Vater auf dem verschneiten Gehweg.  
Wie es schien waren Kurt und seine Omi Henriette die einzigen, die zu Fuß unterwegs waren.  
Kurt bemerkte die Blicke, die ihn musterten, während sie an den Limousinen vorbeischritten. Bestimmt dachten die anderen, dass er sich verlaufen hätte.  
 
Kurt hatte es so verstanden, dass die Aufnahmeprüfung nur für die Internatsschüler gedacht war. Die Stadtschüler, wie sein Vater sie genannt hatte, würden auf einem anderen Weg ausgewählt. So in einen warmen Mantel gehüllt und mit Stiefeln und Wollmütze vor der Kälte geschützt, konnten alle sehen, dass er es nicht weit bis nach Hause hatte. Was wollte er also mit einem Internatsplatz. Den kleinen Koffer, den er mit sich trug, hatte er nur vorsichtshalber mit dem Nötigsten gepackt. Seine Omi hatte ihm zwar versichert, dass er zur Nacht und auch bis das Schuljahr Ende März begänne, bei ihr ein Zuhause habe, aber so ganz glaubte er ihr nicht. In seiner Vorstellung war er mit dem Tag, an dem er Bautzen verlassen hatte, bar jeglicher familiärer Bande und für den Rest seines Lebens ein einsamer Wanderer in der Fremde.  
 
Als er am Abend von seiner Großmutter wieder abgeholt wurde und nicht mit den anderen achtundvierzig im Schlafsaal übernachten mussten fühlte er ich hin und hergerissen. Er wäre so gerne mit den anderen geblieben und befürchtete, von ihnen als Fremdkörper angesehen zu werden, gleichzeitig war er froh der aufregenden Welt von St. Afra noch einen Moment entkommen zu können und sich in der vertrauten Umgebung des großmütterlichen Hauses ausruhen zu können, bevor er für die nächsten acht Jahre auf sich allein gestellt sein würde.
06.11.2023 - 19:14:56