Ika war überzeugt davon, dass ein jedes Kind von Geburt an, davon ausgeht, geliebt zu sein. Nicht dass es dafür empirische Untersuchungen gäbe, oder irgendeinen anderen haltbaren Beweis. Es erschien Ika einfach nur plausibel und der Gedanke war tröstlich.  
Egal in welche Verhältnisse ein Kind hineingeboren wird, ob arm oder reich, herzlich oder eher gefühlskalt, kulturell interessiert und allem Neuen gegenüber aufgeschlossen oder einfach nur engstirnig und bigott, es muss schon sehr viel geschehen oder eben nicht geschehen, wie in Ika's Fall, bis ein Kind wirklich begreift, dass es nicht geliebt wird.
25.09.2024 - 23:12:06

Die Kinder

Gefragt, welches Ereignis der Kindheit mir am lebhaftesten in Erinnerung geblieben sei, habe ich ohne lange überlegen zu müssen, immer geantwortet, dass unsere Mutter uns verlassen hat. 'Uns' meint meinen Vater und meine Brüder. Und vorrangig natürlich mich. Nie kam auf meine pistolenschnelle Antwort eine Nachfrage. Meine Reaktion war so leicht nachvollziehbar, dass es außer Frage schien, nachzuhaken. Es ist leicht sich folgendes vorzustellen: Meine Mutter, die es durchgesetzt hatte, dass wir Kinder sie nie 'Mutter' sondern bei ihrem Vornamen nannten, genau wie auch unser Vater es geschafft hatte von uns nur Axel genannt zu werden, hatte uns Kinder wie selbstverständlich erklärt, dass sie zum Studieren nach Berlin gehen werde und das Berlin eine Stadt sei, die weit entfernt sei, so weit entfernt, dass wir nicht mal schnell mit der Straßenbahn dorthin fahren könnten und dass sie mit Dirk dort zusammenleben werde, weil sie und Axel sich nicht mehr so sehr liebten, aber uns habe sie immer noch lieb und wir würden uns ganz sicher Wiedersehen, schon bald und so weiter.  
Die Erinnerung an dieses Gespräch, das wohl mehr ein Monolog gewesen war, bei dem meine Mutter sehr deutlich gespürt haben musste, dass mein großer Bruder und ich zwar ihre Worte verstanden, aber die Tragweite, dessen was sie uns mitteilte, nicht im geringsten einzuschätzen vermochten, war kein bisschen lebhaft. Verschüttet wäre ein treffenderer Begriff. An dieses Gespräch gibt es keinerlei wie auch immer geartete Erinnerung. Außer einer Entfernten Ahnung, die auch nur daher ruhte, dass mein Bruder Jahre später davon gesprochen hatte, als wir uns gegenseitig unser Leid klagten, regte sich bei mir nichts. Unser kleiner Bruder, der mit seinen knapp drei Jahren kein Wort von dem Verstand, was er hörte, saß gemeinsam mit meinem älteren Bruder und mir im Kinderzimmer auf dem Kotheshof, als Inge uns langsam darauf vorbereitete, dass sie bald fort sei.  
Ich für meinen Teil habe mich der schrecklichen Tatsache gegenüber so vehement verschlossen, dass ich bis heute, fast sechzig Jahre später, es nicht vermag mich daran zu erinnern.  
 
So leicht es ist sich eine solche Situation vorzustellen, Menschen sind nun mal sehr töricht, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, von dem sie wissen, dass es andere sehr verletzen wird, sie sich aber partout nicht davon abhalten lassen wollen, weil sie meinen sonst sich selbst zu verletzen, so schwer ist es allerdings auch zu glauben, ein Kind, egal welchen Alters, würde eine solcherart präsentierte Information kopfnickend entgegennehmen und sich höchstens über Detailfragen, wie der Häufigkeit von Telefonanrufen oder der Besuchsregelung zu Feiertagen beziehungsweise in den Sommerferien, Gedanken machen.  
 
Ich muss schon sehr kalt und gefühllos gewirkt haben. In Wirklichkeit hatte ich tagelang geheult und Tränen vergossen, als ich realisierte, dass sie tatsächlich weg war und nicht zurückkäme.  
Axel hatte gar keine Ahnung, wie er ohne Inge weiterleben sollte. Die Arbeit im Atelier nahm in so derart in Anspruch, dass er manche Nächte durcharbeiten musste und auch Wochenenden waren nicht unbedingt Freizeit. Wenn ein Modell zur Präsentation für einen Architekturwettbewerb fertig sein musste, gab es keinen Aufschub. Wenn die Arbeit im Atelier erledigt war, die letzten Bäumchen befestigt waren, hieß es schnell die Plexiglashaube für den Transport zu befestigen, schnell noch zur Fotografin und unverzüglich weiter zum Ort der Ausstellung und sich den Architekten gegenüber nichts anmerken zu lassen.  
 
In solchen Situationen war kein Platz für Gedanken an die drei Jungs. Als Inge gerade erst mit Dirk in der Ente nach Berlin aufgebrochen war, saß Axel mittags im Café Digger in der Altstadt und traf dort auf Riki, Norberts Freundin. Ob sie es sich vorstellen könne, sich um seine und Inges drei Kinder zu kümmern.  
Riki war damals gerade erst Anfang Zwanzig und hatte ihre aussichtsreiche Anstellung als Bibliothekarin aufgegeben um nach Düsseldorf zu ziehen. Sie hatte in der Silvesternacht 1969 den jungen Künstler kennengelernt, der später im Atelier für Modellbau in der Oberkasseler Straße das ganze Chaos erst in Gang bringen sollte.  

15.06.2024 - 0:54:52