Bösinghoven | 2

Wer die fliegende Untertasse zuerst gesehen hatte, wußte keiner zu sagen. Aber die Nachricht verbreitete sich schnell. Dass das Ufo während des Fluges von Iserlohn nach Düsseldorf an einem Stahlseil befestigt unter einem Bundeswehrhubschrauber hing, war in der Aufregung untergegangen. Charles Wilp, seines Zeichens Star der Werbebranche und befreundet mit Größen wie Bundeskanzler Willy Brandt, Andy Warhol oder Joseph Beuys, hatte das Ufo, das in Wirklichkeit eine vom finnischen Architekten Suuronen 'Futuro' getaufte Ski-Hütte aus glasfaserverstärktem Polyester war, von der Firma Bayer geschenkt bekommen und wollte es auf dem Dach seines Hauses am Rhein aufstellen. Das fliegende Futurohaus war an und für sich nichts besonders Außergewöhnliches. Verschiedene Firmen weltweit produzierten es in Lizenz in kleiner Stückzahl und sahen darin ein lukratives Geschäft. Zur Vermarktung wurden einige der elipsoiden Häuser mit den zwanzig ovalen Fenstern auf Ausstellungen präsentiert. Im Alltag waren sie jedoch kaum zu sehen.  
 
Robert hatte den Flug des Ufos schnell als Werbekampagne für die geplante Internationale Kunststoffhaus Ausstellung gedeutet und war neugierig geworden. Statt zu warten bis die Ausstellung eröffnet wurde und es vor Leuten nur so wimmeln würde, entschied er, sofort loszufahren und sich die Exponate sozusagen im Rohzustand anzusehen. Unter den befreundeten Architekturstudenten lief das Gerücht, es solle einen Termin für Pressevertreter geben. Fotos könnten gemacht werden und für Fragen wären Vertreter der Ausstellungsleitung vor Ort. Um irgendwie den Anschein zu erwecken, sie seien von der Presse, schnitt Linda große Überschriften der Rheinischen Post aus und bastelte daraus ein Pappschild mit der Aufschrift 'Presse'. Das Schild lag lose auf der Konsole vor dem Lenkrad von Roberts Froschauge und sollte ausreichen, um durchgelassen zu werden.  
Jasper überzeugte das unscheinbare Stück Karton nicht; so ein Schild konnte sich ja jeder machen. Vor der Abfahrt war er trotzdem ganz aufgeregt. Er durfte bei Robert im Austin-Healey mitfahren, Linda und noch ein paar Freunde wollten in der roten Ente folgen. Das Gerede über Ufos und Futurohäuser passte genau in Jaspers Phantasiewelt, in der Raumschiffe, Außerirdische und Astronauten so selbstverständlich und alltäglich waren wie Autos und Straßenbahnen oder Modellbauer und Architekten. Um dem Anschein, von der Presse zu sein, etwas mehr Geltung zu verschaffen, nahm Robert seine Leica in dem abgewetzten Lederfutteral mit. Dass sie nicht wirklich funktionierte, spielte keine Rolle. Sie gehörte nur zu der Illusion, die Robert schaffen wollte, damit sie wie selbstverständlich auf das Ausstellungsgelände gelangen sollten. Linda fragte sich im Stillen, wie sie die Anwesenheit von Jasper erklären wollten. Es war bestimmt nicht üblich, dass Pressefotografen ihre zehnjährigen Kinder zur Arbeit mitnahmen, aber andererseits sahen sie auch nicht wie die typischen Journalisten aus. In ihrem gebatikten T-Shirt, ihrer Fellweste und den braunen Ledersandalen sah sie genausowenig seriös aus wie Robert oder die anderen in Jeansjacke und abgewetzter Cordhose. Da passte Jasper mit seinen knielangen, wildledernen Schnürstiefeln und der Fransenjacke hervorragend ins Bild. Dazu noch die langen blonden Haare. Jasper ging gut als Mädchen durch und hätte rein äußerlich für Lindas Tochter gehalten werden können. War das jetzt von Vorteil? Sie würden es sehen.  
Von Bösinghoven nach bis zum Ausstellungs-Areal an der Herscheider Landstrasse brauchten sie knapp anderthalb Stunden. Das Thermometer zeigte schon am Morgen angenehme vierundzwanzig Grad, es waren kaum Wolken am Himmel, es versprach eine angenehme Fahrt bei offenem Verdeck nach Lüdenscheidt zu werden.
07.02.2023 - 21:55:08