Bösinghoven | 1

Von den drei Kätzchen, die in Leos und Jaspers Spielzimmer auf dem Kotheshof zur Welt gekommen waren, war eins so klein und schwach gewesen, dass es von den Geschwistern beim Saugen an den Zitzen der Mutter, abgedrängt wurde und trotz der Bemühungen von Isa und den Jungs es mit einem provisorisch gebastelten Nuckelfläschen aufzupäppeln, in dem sich zuvor Zuckerperlen befunden hatten, nur wenige Tage lang lebte. Jasper und Leo hätten die beiden überlebenden Katzenbabys am liebsten wie ein Spielzeug mit sich herum getragen, aber Isa hatte bestimmt, dass sie die Mutter mit ihren Kindern nicht zu sehr stören sollten. Das Spielzimmer blieb für mehrere Wochen unbenutzt, nur leise durften sich die Brüder zu den Katzen begeben und in einigem Abstand auf dem Boden verharrend dazu gesellen. Mit der Zeit kamen die kleinen Kätzchen neugierig zu den Jungs getapst und Leo und Jasper strahlten vor Freude über die zutraulichen Geschöpfe. Jasper taufte das eine Kätzchen, das etwas schlanker war, 'Kater Mikesch' und Leo nannte das etwas pummeligere von beiden einfach 'Kätzchen'. Die Mutter überließ Kater Mikesch und Kätzchen bald schon immer länger sich selbst. Die Haustür und die Tür zum Kinderzimmer standen immer offen, weil Isa der Katzenmutter die Freiheit lassen wollten zu kommen und zu gehen, wie es ihr beliebte.  
An einem recht milden Vormittag, als die Katze mal wieder unterwegs war, nahmen Leo und Jasper ihre Katzen auf dem Arm mit nach draußen vors Haus und wollten sie ein wenig in der Sonne spielen lassen. Sie hatten die beiden gerade auf die warmen Steinstufen der Treppe gesetzt, da kam ein Schäferhund um die Hausecke geschossen und schnappte einmal schnell zu. Nachdem er Leos 'Kätzchen' mit einem Biss getötet hatte, ließ der große, dunkelbraune Hund die leblose kleine Katze einfach auf den Boden fallen und drehte sich nach seinem Besitzer um, der langsamen Schrittes auf die entsetzten Jungs zu kam. Der fremde Mann schaute kurz auf das tote Kätzchen, gab ein schwer verständliches Grunzen von sich und nahm den Schäferhund am Halsband und zog ihn mit sich. Leo saß reglos vor Schreck mit 'Kätzchen' auf dem Schoß vor dem Haus und weinte jämmerlich bis Isa ihn hörte. Als sie ihre verstörten Kinder auf der Treppe sitzen sah und Jasper geantwortet hatte, dass ein großer Hund Leos Kätzen totgebissen hätte, machte sie sich sofort auf und erwischte die Nachbarn, die die obere Etage vom Kotheshof bewohnten, gerade noch dabei wie sie ihren Besuch verabschieden wollten.  
Jasper und Leo hörten lediglich die Stimme des Hundebesitzers: 'War doch nur ein kleines Kätzchen!' Was Isa erwiderte verstanden sie nicht, aber es klang wie das Fauchen einer zum Sprung bereiten Raubkatze. Der Mann war mit seinem Hund in den großen Wagen gestiegen und fuhr vom Hof, während Isa noch auf die Frau von oben einredete. Eine Freundschaft entwickelte sich da nicht mehr.  
 
Als Robert und Linda den Hof in aller Eile hatten räumen müssen und hastig begonnen hatten die Sachen der Kinder einzupacken, war keine Zeit gewesen nach Kater Mikesch zu suchen.  
Spätestens nach dem Einbruch hatte sich im Ort herumgesprochen, dass in der unteren Hälfte des Wohngebäudes nicht mehr die Fenglers mit ihren Kindern wohnten, sondern irgendwelche fremden jungen Leute mit den Kindern hausten. Es war nicht wirklich etwas gestohlen worden. Sie kamen im Dunkeln vom Duisburger Zoo zurück und hatten zuerst gar nicht gemerkt, dass das Fenster zum Wohnzimmer eingeschlagen war. Erst als sie versuchten die Deckenleuchte anzuschalten und sie nicht funktionierte und sie im notdürftigen Kerzenschein den umgeworfenen, leeren Käfig von Roberts Streifenhörnchen entdeckten, merkten sie, dass im ganzen Zimmer Unordnung herrschte. Schallplatten lagen verstreut auf dem Boden, der Plexiglasdeckel vom Schneewittchensarg war zersplittert und der Tonarm hing abgebrochen nur noch an einem dünnen Kabel neben dem Plattenteller herunter. Bilder waren von den Wänden gerissen und Lindas lange Kleider lagen zerschnitten, und von einer ätzend riechenden Flüssigkeit besudelt, auf dem gemeinsamen Bett. Im Kinderzimmer war nichts angerührt nur Jaspers hellblau und weiße Spardose in Form eines Dodekaeders war verschwunden und damit sein gespartes Taschengeld von einem halben Jahr. Das Streifenhörnchen tauchte nach zwei Tagen wieder auf. Es hatte sich unter den Fussbodendielen verkrochen und hätte es nicht so sehr geraschelt, wenn es dort unterwegs war, wäre es wohl nie entdeckt worden. Es war anzunehmen, dass der oder die Einbrecher es allein darauf abgesehen hatten, Angst und Schrecken zu verbreiten.  
 
Dass Robert gesagt hatte, der Kater würde schon alleine klarkommen, fand Jasper gemein. Natürlich hatte Mikesch immer draußen gelebt und war nur von Zeit zu Zeit gekommen, wenn sie ein Schälchen Milch vor die Tür gestellt hatten, aber ihn einfach nur Kater zu nennen und ihn zurückzulassen, wenn sie den Kotheshof für immer verlassen mussten, dazu hatte Robert kein Recht. Jasper war wütend.  
Hätte er gewusst, dass er nur links von der Hofeinfahrt den Weg nehmen müsste, auf dem er Fahrradfahren gelernt hatte, um vor der großen Kurve das kleine Wäldchen zu durchqueren und dann über ein zwei Felder hinweg schon die Geismühle erblicken zu können, wäre er sicherlieh so oft er konnte, in alle Richtungen 'Mikesch' rufend, Suchen gegangen. Von der Geismühle war es nur ein Katzensprung zu seinem neuen Heim.  
Von dem Tag an, an dem sie in Bösinghoven eingezogen waren, hatte Jasper den Koteshof nie wieder gesehen. So wie Isa eines Tages verschwunden war, waren jetzt auch sein Zuhause und Mikesch für immer verloren. In dem neuen Haus bekam Leo ein eigenes Zimmer die Treppe hoch über der Garage mit einem Fenster, von dem man auf das Verandadach klettern konnte. Marianne, Paul, Nils und Jasper waren wieder zusammen in einem Zimmer untergebracht. Die Matratze auf dem Fussboden sollten sie sich wieder teilen, aber wie schon zuvor gab es bald wieder Streit zwischen den drei Kleinen und Jasper, der nicht einsehen wollte, warum er mit den 'Babys' in einem Zimmer sein musste. Inzwischen ließen sich die Kleinen die Schikanen von Jasper nicht mehr widerstandslos gefallen und taten sich zusammen gegen ihn. Er fing an Paul zu schlagen und wenn Marianne oder Nils dazwischen gingen, bekamen sie auch etwas ab. Das gab natürlich Geschrei und Linda kam ins Zimmer, war genervt und schrie Jasper an, bis er davon rannte und die Wohnzimmertür scheppernd zu warf, dass die Milchglasscheibe aus dem Rahmen zu springen drohte. Vom Wohnzimmer aus rannte der wildgewordene Jasper auf die Veranda und weiter die Treppe hinunter in den Garten, wo er sich auf das Dach des Hundezwingers schwang und dort vor sich hin schimpfte. 'Ihr seid alle so gemein!', dachte er und wünschte sich weit weg.  
Wenn er sich wieder beruhigt hatte, kam er wieder rein geschlichen, setzte sich zu den anderen aufs Sofa und versuchte so zu tun, als wäre nichts gewesen. Die Erwachsenen konnten ihm schnell wieder verzeihen, die drei Kleinen wollten von ihm aber nichts mehr wissen. Sie waren froh, als Robert verkündete, dass Jasper ab sofort sein Zimmer im Keller bekommen würde. So müssten sie ihn nur noch am Esstisch oder im Wohnzimmer ertragen und da wären sie ihm nicht mehr allein ausgeliefert.  
Die Wände des Kellerzimmers waren rauh und unverputzt, der Fussboden nackter Stein. Es gab eine Glühbirne ohne Lampenschirm, die von oben herab hing, und kein Fenster nur einen Lichtschacht, durch den etwas Luft kam. Auf dem Boden lag eine Matratze und eine Decke für ihn ganz allein. Möbel hatte er keine. Seinem Zimmer gegenüber befand sich hinter einer schwergängigen Schiebetür aus Pressholz eine Toilette mit kleinem Waschbecken. Jasper schaltete das Licht in seinem Zimmer nur aus, wenn er es verließ um zur Schule zu gehen. Ihn grauste es vor den Spinnen, die im Keller hausten und auf dem Weg zur Toilette in der Nacht auf dem Boden hockten. Von den Büchern, die er zusammen mit den Comicheftchen neben seiner Matratze gehortet hatte, lag ein besonders dickes vor seiner Zimmertür, die er auch nie ganz geschlossen hatte. 'Die Schatzinsel' hatte sich eines Nachts hervorragend geeignet um es auf eine besonders fette Spinne plumpsen zu lassen. Das Buch ließ Jasper dort liegen und rührte es nie wieder an.  
Weitere Bücher wollte Jasper nicht mehr opfern und weil er sich nicht mehr aufs Klo traute, begann er ins Bett zu machen. Da er im Keller, bis auf die kurze Zeit als sich Gerda und Jochen im frisch renovierten Nebenzimmer einquartiert hatten, alleine war, fiel der beißende Geruch nicht weiter auf. Wenn er es morgens vor der Schule rechtzeitig schaffte ins Badezimmer zu kommen, wusch er sich schnell und suchte im Wäschekorb nach einer Unterhose, die ihm passte. Manchmal war die Zeit zu knapp, oder das Badezimmer besetzt, dann wusch er sich nicht und ging eben ohne Unterwäsche zur Schule. Ihn störte das nicht weiter, er hatte sich an den Geruch gewöhnt und bislang war er nicht darauf angesprochen worden.
20.02.2023 - 18:36:45